Michael Thumann ist Außenpolitischer Korrespondent der ZEIT. Er studierte Geschichte, Politik und Slawistik in Berlin, New York und Leningrad. Zuvor war er sechs Jahre lang ZEIT-Korrespondent für den Nahen und Mittleren Osten in Istanbul. Bis Ende 2007 leitete und koordinierte er die außenpolitische Berichterstattung der ZEIT. Von 1996 bis 2001 war er der ZEIT-Korrespondent in Moskau und berichtete über Russland und die islamischen Völker des Kaukasus und Zentralasiens.
Für seine Berichterstattung erhielt er 2012 den Helga und Edzard Reuter-Preis für Völkerverständigung und den Deutschen Journalistenpreis. 2011 erschien von ihm «Der Islam-Irrtum. Europas Angst vor der muslimischen Welt».
Sein jüngstes Buch „Neue Anschrift Bosporus. Wie wir versuchten, in Istanbul heimisch zu werden“ welches Thumann mit seiner Frau Susanne Landwehr herausbrachte, beschreibt ihren sechs jährigen Aufenthalt in der Türkei.
PPJ hat im Interview über die derzeitige Situation der Türkei und Erdogans Machtbestreben diskutiert…
Wie bewerten Sie als Journalist die Haltung der türkischen Regierung im aktuellen Fall Jamal Khashoggi? Auf der einen Seite werden Informationen an internationale Medienschaffende über den grausamen Mord an Khashoggi zugespielt, auf der anderen Seite soll es Abkommen zwischen den Saudis und den USA geben- beide Haltungen werden kritisiert. Wie ist Ihr Blick auf die Ereignisse?
Präsident Erdogan hat mit der Khashoggi-Krise eine Gelegenheit, die Rolle der Türkei im Nahen Osten aufzuwerten und gleichzeitig den Rivalen Saudi-Arabien in die Schranken zu weisen.
Hier liegt auch ein Machtkampf zwischen Ankara und Riad vor. Im Übrigen nutzt Erdogan die Krise, sein internationales Standing aufzubessern.)
Womit könnte die extreme Feindseligkeit der türkischen Regierung gegenüber den Journalisten Can Dündar zusammenhängen? Er wurde zur Pressekonferenz von Merkel-Erdogan nicht zugelassen. Dündar selbst gab an dass der Grund der Hetze und Verfolgung in direktem Zusammenhang mit der Öffentlich-Machung der Veruntreuung Erdogan’s und seiner Familie am 25. Dezember 2013 steht.
Ich stimme der Einschätzung zu. Alle, die Ende 2013 die mutmaßliche Korruption und Vorteilsannahme der Regierung, der Freunde und der Familie Erdogans öffentlich machten oder kommentierten, haben sich Erdogans ewigen Zorn zugezogen.
Das ist Erdogans schwache Stelle. Genauso wie Putin in Russland reagiert er hart und unver-hältnismäßig, wenn jemand versucht, in diesen Fragen etwas offenzulegen.
Welchen Einfluss könnte die starke politische Beziehung der Türkei zu den Balkanstaaten auf dortige NGO’s und Regierung in Bezug auf Menschenrechte und Demokratie haben?
Die Türkei versucht seit vielen Jahren, auf dem Balkan mehr Einfluss zu gewinnen. Das wäre aus EU-Sicht vor 5-10 Jahren noch begrüßenswert gewesen, heute darf die EU beunruhigt sein, denn türkische NGOs und die türkische Regierung haben eine realpolitische Agenda zur Einflusserweiterung, bei der Demokratie und Menschenrechte eine nachrangige Rolle spielen.
Journalisten wie Yavuz Baydar deuten den Richtungswechsel der türkischen Regierung in Bezug auf die Kurdenfrage von zuvor friedensstiftend und kooperierend auf heute erneut nationalistische-sanktionierend-diskriminierend darauf, dass ein quasi “mafiöses Bündnis” Erdogan’s mit extrem nationalistischen Gruppen. Wie sehen Sie den Wandel?
Ob der Begriff Mafia passt, weiß ich nicht, aber es ist offenbar, dass Erdogan seit 2015 ein Bündnis mit nationalistischen Extremisten eingegangen ist.
Alle, die in Erdogan einen Islamisten sahen, der das Land in einen zweiten Iran verwandeln würde, haben sich grundsätzlich geirrt.
Erdogan steht im Bündnis mit Nationalisten und damit durchaus in einer autoritär-nationalistischen Tradition der türkischen Republik, nur leider ihrer düstersten.
Glauben Sie, dass die Handels- und Flüchtlingsabkommen mit der Türkei Deutschland daran hindern in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen in der Türkei stärker Position zu beziehen und klarere Haltung einzunehmen?
Ich glaube, dass Berlin und Ankara gleichermaßen auf das Flüchtlingsabkommen angewiesen sind. Da liegt keine Abhängigkeit Berlins vor, sondern ein gegenseitiges starkes Interesse. Beim Handel sind die Deutschen, je nach Gasimport aus Russland und den Preisen, der wichtigste oder zweitwichtigste Handelspartner der Türkei. Umgekehrt rangiert die Türkei für Deutschland als Handelspartner unter ferner liefen.
Hier liegt eine klare Abhängigkeit der Türkei von Deutschland vor. Deshalb hat sich die Türkei auch so intensiv um eine Verbesserung des Verhältnisses bemüht, als Berlin mit Sigmar Gabriel im Sommer 2017 begann, die Handelsbeziehungen zu beschädigen.
Deutschland hat da weniger zu verlieren als die Türkei, deshalb hat sich Erdogan über Cavusoglu plötzlich so bemüht. Die Teezeremonie von Goslar im Januar 18 war nicht zwingend deutsches Interesse, sie hatte eher mit Gabriels Agenda zu tun, Außenminister zu bleiben.
Die Regierung Erdogan’s plädiert und wirbt stark für eine Türkei, die viele Facetten des Islamismus zeigt. In Ihrem Buch “Neue Anschrift Bosporus” schreiben Sie, dass Sie bereits zuvor mit Regierungsoberhäuptern ins Gespräch kamen, die ähnliche “religiös-identitäre Must-Haves” groß auf Ihre Fahnen schrieben. Wie würden Sie als Journalist, der Erdogan’s “Wirken und Sein” sechs Jahre vor Ort in Istanbul beobachten und begutachten würde beschreiben und bewerten?
Ich verweise hier auf Frage 4 und meine Antwort. Ich halte Erdogan nicht für einen echten Islamisten, sondern für einen machtbesessenen Pragmatiker, der sich jede mögliche Ideologie wie einen Mantel überhängt, um an die Macht zu kommen bzw. dort zu bleiben.
Der Islamismus türkischer Spielart war für ihn der soziale Aufzug nach oben in der türkischen Politik, das ideale Mittel aufzusteigen, der politische Pragmatismus und Liberalismus war das Vehikel, um ab 2003 Premier zu werden und die EU-Beitrittsverhandlungen zu erreichen, jetzt kokettiert er mit dem Nationalismus, um seine Macht zu betonieren. Der Mann glaubt an nichts wirklich außer an sich selbst.